Quo vadis, Vorbehaltsaufgaben?

Kürzlich in einem berufspolitisch orientiertem Seminar über Vorbehaltsaufgaben gab es eine bemerkenswerte Rückmeldung einer Pflegepädagogin einer großen Uniklinik. Kern der als Kritik formulierten Anmerkung war, dass Vorbehaltsaufgaben nunmehr in der pflegerischen Praxis zu den Pflichten und Verantwortung des Pflegefachpersonals gehören würden und man nicht verstehen würde, warum über deren Umsetzung in der Praxis überhaupt noch diskutiert würde. Es kommt nicht oft vor, aber da ist mir ad-hoc nicht viel eingefallen, was ich hätte entgegnen können.

Meine Erfahrung mit der Umsetzung von Vorbehaltsaufgaben ist, dass sich alle damit schwertun. Gleichwohl nehme ich wahr, dass es auch Beispiele dafür gibt, wo Kollegen und Kolleginnen für sich in Anspruch nehmen, die Pflegeprozesssteuerung schon seit langem durchführen zu würden. Ich sehe in diesen Fällen eher, dass sich Pflegefachpersonen im Rahmen der von der Unternehmensleitung verfügbar gemachten Dokumentationssysteme in der Erfüllung der Verantwortung durch die Vorbehaltsaufgaben auf der sicheren Seite sehen.

Dokumentationssysteme können nicht das wesentliche Merkmal der Vorbehaltsaufgaben sein – wenn §4 des Pflegeberufegesetzes den Pflegefachpersonen die Verantwortung für die Steuerung des Pflegeprozesses überantwortet, kann das nicht in die Systematik eines Dokumentationssystems allein übertragen werden. Das ist ja gerade das Thema, dass die Vorbehaltsaufgaben bestimmte Handlungen der Pflegefachperson in ihr selbst begründen. Es geht um Verantwortungsübernahme und pflegerische Haltung und nicht darum, ein Dokumentationssystem zu beherrschen.

Folgendes Beispiel (und ich weiß, es gibt Einrichtungen, wo das schon umgesetzt ist oder Sie ein besseres Beispiel haben, aber lassen Sie sich kurz auf die Systematik ein): Auf einer unfallchirurgischen Abteilung wird eine alte Dame nach Schenkelhalsfraktur medizinisch behandelt. Ärzte und Ärztinnen planen die Entlassung. Die Dame lebt alleine im Haushalt in einer Altbauwohnung zweites OG ohne Lift und betreut einen kleinen Hund. Es gibt keine Kinder in der Nähe. Die Schenkelhalsfraktur ist das Ergebnis eines Sturzereignisses in der Wohnung. Die Dame hat sich bisher selbst versorgt. Die betreuende Pflegefachperson nimmt nach dem Sturzereignis Gangunsicherheiten bei der Dame wahr. Aus pflegerischer Perspektive widerspricht die Pflegefachperson der Entlassung in die Häuslichkeit. Wer setzt sich an dieser Stelle durch? 

Die Frage ist auch, worauf sich Pflegefachpersonen beziehen können? Wer hält ihnen bei der Anwendung der Vorbehaltsaufgaben eigentlich den Rücken frei? Wie können einzelne Pflegepersonen hier – ohne Schaden zu nehmen – zu einer gesetzeskonformen Ausübung ihrer beruflichen Verantwortung kommen? Oder müssen wir jetzt erst mal aushalten, dass wir gegebenenfalls als Querulanten wahrgenommen werden? Viele Frage, noch nicht viele Antworten.