Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Deutschland kommt die politische Mitte abhanden. Nicht nur Deutschland – bald in ganz Europa bestimmen die Populisten die Diskussion. Offene Grenzen werden wieder gesichert, Sammellager wurden eingerichtet, in denen Menschen gegen ihren Willen und ohne etwas falsch gemacht zu haben, festgehalten werden. Das ist die Willkommenskultur einer geschlossenen Gesellschaft: Du gehörst hier nicht her – geh hin, wo du hergekommen bist. Dafür lassen sich hierzulande demokratisch legitimierte Parteien feiern und peitschen Gesellschaft und Politik mit unerträglicher Hetze auf. Derweil ertrinken Flüchtlinge im Mittelmeer und ein Kontinent blutet – von Kriegen und Elend seit Jahrzehnten im Würgegriff gehalten – aus. Wir diskutieren, ob in den Klassenzimmern Kreuze aufgehängt gehören. 

Wir haben in der Pflege auch Probleme. Sogar mehr als genug davon. „Pflegenotstand“ beschreibt nicht mal mehr im Ansatz, was hierzulande als Alltag von den Kolleginnen und Kollegen Tag für Tag ausgehalten werden muss. Die mittlerweile ungezählten Imagekampagnen sind nicht mehr als der verzweifelte Versuch, dem ganzen Mist wenigsten noch einen bunten Anstrich zu geben. Da fällt mittlerweile aber keiner mehr drauf rein. 

Mehr als nachdenklich macht, wenn eine Strategie zur Abfederung des Personalmangels die Gewinnung von Fachkräften aus dem Ausland ist, während hierzulande das Klima auf „Fremdenfeindlichkeit“ absinkt. Die irrationale Angst und der Hass auf alles Fremde machen doch nicht halt, weil neben dem Migrationshintergrund eine Pflegefachausbildung steht. Verpufft die Angst des Spitzenpolitikers beim Bäcker, weil der junge Mann aus Syrien ein Altenpfleger ist? Hetzt die in der Schweiz lebende Bundestagsabgeordnete nicht mehr über „Kopftuchmädchen“, wenn diese in der Kinderkrankenpflege Frühstgeborenen das Überleben sichern? Ist die Libyerin vom Generalverdacht befreit, weil sie in der Endoskopie bei der ERCP mitwirkt? 

Während wir also nach einem Weg suchen, mehr Pflegefachpersonen zu gewinnen und für jeden konstruktiven Vorschlag dankbar sind, wird es draußen kälter. Wir haben die Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Wir Pflegenden haben das zu unserer Profession gemacht. Aber wir sind auch Teil einer Gesellschaft, die sich von diesem Anspruch abwendet. Wenn es hierzulande keine Bereitschaft gibt, Integration und Willkommenskultur ernsthaft im Alltag zu leben, wird das auch für die Pflegeberufe eine schwere Hypothek. Die Demokratie und unsere Menschlichkeit zu verteidigen ist auch eine Aufgabe für uns Pflegenden, der wir uns mit Engagement widmen müssen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. 

P.S.: Bei diesem Text handelt es sich um die aktualisierte Version eines im Sommer 2018 von mir veröffentlichten Kommentars. Aber der dahinter stehende Gedanke hat für mich nichts an Aktualität verloren.