Nachhaltigkeit von Rekrutierungsstrategien

Nachhaltigkeit bedeutet, die gegenwärtigen Bedürfnisse so zu befriedigen, dass zukünftige Generationen in ihren Möglichkeiten nicht eingeschränkt werden. Die gleichberechtigten Dimensionen nachhaltiger Maßnahmen sind deren wirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit und ökologische Tragfähigkeit. Die Abwägung dieser Dimensionen soll als Grundlage nachhaltiger Politik alle Entscheidungen prägen. In diesem umfassenden Verständnis von Nachhaltigkeit ist die ökologische Tragfähigkeit also nur eine Dimension. Diese ist natürlich von prominenter Bedeutung, weil gerade in den ökologischen Implikationen die Bedrohlichkeit nicht nachhaltiger Entscheidungen von großer Tragweite besonders deutlich werden. Gleichwohl weisen die Dimensionen der wirtschaftlichen Effizienz und sozialen Gerechtigkeit auf andere, nicht weniger bedeutsame Handlungsfelder hin, die das Leben zukünftiger Generationen entscheidend prägen werden.

Wenden wir den Nachhaltigkeitsbegriff auf Rekrutierungsmaßnahmen von Pflegepersonen aus dem Ausland an, können wir uns auch an diesen Dimensionen orientieren. Dieser Gedanke scheint zunächst ungewöhnlich, muss aber angesichts des enormen Energieaufwandes, der mit der Rekrutierung von Pflegepersonen aus dem Ausland einhergeht, zugelassen werden. Energie meint in diesem Zusammenhang nicht nur die physische Energie, die bei den Flügen zwischen Deutschland und den Rekrutierungsländern verbraucht wird – vielmehr fällt hierunter auch die psychische Energie, die für Loslösung von Familien, Anerkennungsverfahren und Integrationsprojekte aufgewendet wird. 

Mit Blick auf die Zukunft als Orientierungsmaßstab für Nachhaltigkeit von Instrumenten der Gegenwart müssen auch die Versuche, den inländischen Mangel an Pflegefachpersonen durch Rekrutierung von Pflegefachpersonen aus dem Ausland hinsichtlich deren Begründungszusammenhangs und ihrer Wirksamkeit betrachtet werden. Also konkret folgende Fragen gestellt werden: in welchem Umfang lassen sich durch Zuwanderung von Pflegepersonen die inländischen Bedarfe unterstützen und sind die Bedingungen dafür so ausgerichtet, dass dem Nachhaltigkeitsanspruch entsprochen wird, also zukünftige Generationen in ihren Möglichkeiten nicht eingeschränkt werden? 

Die Zahl der Menschen mit einem Versorgungsbedarf nach SGB XI  nimmt zu. Von 1999 bis 2021 hat sich die Zahl der Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung auf 4,96 Mio mehr als verdoppelt. Davon werden 80 % zu Hause versorgt, 63 % von ihren Angehörigen. Offensichtlich ist es also möglich, Angehörige einen Teil der Tätigkeiten durchführen zu lassen, der von der Gesellschaft ganz selbstverständlich der Pflege zugesprochen wird. Anders ist es nicht zu erklären, dass auch in der Öffentlichkeit die Angehörigenfürsorge als größter Pflegedienst der Nation wahrgenommen wird. 

Gleichzeitig führen die Pflegefachberufe die Engpassstatistik der Bundesagentur für Arbeit an. 2022 weist die Bundesagentur eine mittlere Vakanzzeit von 136 Tagen für offen gemeldete Stellen für Pflegeperson aus. Das findet vor dem Hintergrund eines bereits seit Jahrzehnten eh schon bestehenden Pflegepersonalmangels in den Einrichtungen statt, der durch demografische Faktoren jetzt noch verschärft wird. In den Krankenhäusern fehlen 2035 laut einer Studie von PwC gut 288.000 Pflegepersonen, in der stationären Langzeitpflege gut 100.000. 

Der demographische Wandel liefet gute Argumente für die Rekrutierung von Pflegefachpersonen. Zugleich offenbart der enorme Bedarf an Pflegfachpersonen aber auch, dass Zuwanderung nicht die einzige und vor allem nicht die notwendige Antwort auf die Herausforderungen in der Pflege darstellt. Im Kern bleibt die Formel, dass wir mit weniger Pflegepersonen mehr LeistungsempfängerInnen zu versorgen haben. Das kann nur gelöst werden, wenn die Systemstrukturen von Grund auf an dieses demographische Paradigma angepasst werden. Die wertvolle Ressource pflegefachlicher Kompetenz spielt dabei eine herausragende Rolle, sofern es gelingt, Pflegefachlichkeit auch in den Köpfen aus ihren subalternen und verrichtungsorientierten Tätigkeitszuschreibungen auszulösen und Pflegepersonen entsprechend ihrer Kompetenzen eine Pflegepraxis ausüben zu lassen, die einen echten Pflegeprozess anwendet. 

Eine der Schwierigkeiten für Pflegefachpersonen aus dem Ausland ist es, hierzulande anzukommen. Hier stehen Sprache, Kultur und unterschiedliches Professionsverständnis zwischen den zugewanderten und den inländischen Pflegepersonen. Zudem stellen die Integrationsanstrengungen oft noch allein auf die Arbeitsmigrantinnen und -migranten hin ab: Diese sollen sich mit der Kultur in den Zielländern befassen, eine fremde Sprache lernen und sich auch an die Arbeitsbedingungen anpassen. Zu selten hingegen sind an den Zielorten Bemühungen angestrengt, die im Sinne einer echten Willkommenskultur erkennen lassen, dass auf die zugewanderten Pflegefachpersonen zugegangen und deren Expertise als Zugewinn wahrgenommen wird. Eigentlich absurd, schließlich bitten wir diese Kolleginnen und Kollegen um Hilfe.

Pflegefachpersonen aus dem Ausland haben derzeit oft einen formal höheren Bildungsabschluss als inländische Pflegefachpersonen. Die Anerkennungsverfahren sind langwierig und zäh und stellen einzig darauf ab, den formalen Downgrade herzustellen – also den ausländischen Studienabschluss auf den in Deutschland üblichen Ausbildungsabschluss runterzubrechen.  Gleichzeitig lernen die Kolleginnen aus dem Ausland hierzulande, Pflege neu zu denken und sich von ihren Erfahrungen, welche Aufgaben Pflege hat, zu verabschieden. Schließlich müssen sie sich in die Verrichtungsorientierung deutscher Pflege hineindenken lernen, um in den Systemstrukturen in Deutschland bestehen zu können. Um ein Beispiel anzuführen: zum Aufgabenprofil von Advanced Nurse Practitioner, wie sie in Niederlande eingesetzt werden, können z.B. auch die Durchführung bestimmter Endoskopien, komplexere Wundversorgungen oder auch die Rezeptierung von Medikamenten gelten. Das ist dann doch weit vom Pflegeverständnis in Deutschland entfernt. Reibung entsteht, wenn im Rekrutierungsprozess diese Unterschiede nicht deutlich kommuniziert sind. Für zugewanderte Pflegefachpersonen steht – neben den pflegefachlichen Differenzen – zudem oft auch ein erlebter Alltagsrassismus im Widerspruch zu den Versprechungen über ein gutes Leben in Deutschland. 

Das Programm „Triple Win“ steht für die Anstrengungen, Pflegefachpersonen aus dem Ausland zu gewinnen. „Triple Win“ soll dabei den Handlungsrahmen darstellen, dessen Anwendung sicherstellt, dass die Rekrutierung für alle Beteiligten ein Gewinn darstellt: das Entsenderland mit einem „Überangebot“ von qualifizierten Pflegefachpersonen, das Empfängerland mit dem Pflegenotstand und die emigrierte Pflegefachperson, die der Verheißung eines besseren Lebens folgt, auch. Die dahinterstehende Logik entspricht dem Verwertungsansatz, der bei der Gestaltung von Pflegeberufesettings seit spätestens der Einführung des Sozialgesetzbuches XI das vorherrschende Paradigma der Politik für Pflege zu sein scheint.  Mit „Triple Win“ wird am Ende eine Verantwortungsethik propagiert, die hegemoniale Ansätze im Rekrutierungsprozess verschleiern soll. Das hat auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension: Während für den Bedarf an Pflegefachpersonen hierzulande im „geeigneten“ Ausland Familien auseinandergerissen werden, rutscht das politische und gesellschaftliche Klima in Deutschland nach Rechts und auch Parteien der bürgerlichen Mitte setzen sich für eine schnelle Abschiebepraxis „unerwünschter“ Ausländer ein. 

Es ist schlicht nicht zu verstehen, warum es der Gesellschaft nicht in den Sinn kommt, Menschen eine Perspektive zu geben, die sich aus dem zutiefst existentiellen Bedürfnis nach einer sicheren Umgebung auf den Weg nach Europa gemacht haben. Angesichts des Mangels an Pflegefachpersonen kann – gegen alle anderen Argumente – diese Perspektive auch in den Pflegeberufen liegen. Dass es dafür einiges zu tun gäbe, ist davon unbenommen. Das Versorgungssystem allerdings in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform neben vielen anderen Versäumnissen in der Sozialpolitik auch durch Rekrutierungsantrengungen zu manifestieren, schränkt zukünftige Generationen eher ein. Diese Versorgungsstrukturen sind nicht zukunftsfähig und werden die Sozialkassen überlasten.

Zu den Rekrutierungsanstrengungen wäre abschließend noch folgendes zu sagen: Diese würden nachhaltig sein, wenn sie zu einem Kulturwandel in der Pflege in Deutschland beitragen, weil wir von anderen bereitwillig lernen, wie Pflege auch durchgeführt werden könnte. Weg von der Verrichtungsorientierung hin zu einer selbstbewussten Pflegefachlichkeit mit einem ausgeprägtem Professionsverständnis. Unsere Aufgabe in der jetzigen Generation wäre es dann, dieser Entwicklung nicht im Weg zu stehen, sondern sie wohlwollend und offen zu begleiten. Ziel der Anstrengungen muss es sein, zu einem anderen Rollenverständnis von Pflege zu kommen und dieses in der Versorgungsstruktur auch zu verankern. Community Health Nurses stehen beispielhaft für dieses veränderte Rollenverständnis von Pflege: Der für die Erfüllung des Nachhaltigkeitsversprechens notwendige Paradigmenwechsel liegt in der Fokussierung auf Prävention und Zuordnung der Verantwortung dafür bei den Pflegefachpersonen.

Mehr Eigenverantwortung und andere Aufgaben erfordern auch andere Bildungswege. Hier können wir von den zugewanderten Kolleginnen und Kollegen mehr lernen. Dafür müssen wir uns darauf einlassen und die Rekrutierungsanstrengungen weniger unter dem Aspekt der Fachkräftegewinnung einordnen, sondern mehr unter dem Aspekt der Entwicklungshilfe. Und um Missverständnissen vorzubeugen: den Entwicklungshilfebedarf haben wir an dieser Stelle in Deutschland.