Die Anwendung des Pflegeprozesses und seine Steuerung können ein wichtiges Identifikationsmerkmal beruflicher Pflege sein. Mit dem neuen Pflegeberufegesetz ordnet dessen § 4 „Vorbehaltsaufgaben“ den Pflegefachpersonen mit der Steuerung des Pflegeprozesses einen definierten Aufgabenbereich zu, der ausschließlich von diesen durchgeführt werden darf. Allerdings spielt das in Ausbildung und Studium eine erheblich größere Rolle, als in der pflegerischen Praxis.
Denn die Anwendung des Pflegeprozesses steht mit dem neuen Pflegeberufegesetz allein in der Verantwortung der Profession und das widerspricht der öffentlichen und politischen Wahrnehmung davon, was Pflege ist: eine Verrichtung, die jeder kann und folglich auch jedem erlaubt sein muss. Schließlich basiert eine ganze Versorgungsstruktur auf diesem Paradigma und das lässt sich nicht so leicht infrage stellen.
Angesichts der demografischen Realität wird die Untätigkeit der Politik in kurzer Zeit einen Handlungsdruck aufbauen, der aus meiner Perspektive die Profession komplett in Frage stellt – wenn wir jetzt nicht selbst das Zepter in die Hand nehmen. Wenn sich das Leben immer weiter in den Großstädten konzentriert, wird es für die in den Dörfern lebenden Menschen immer schwerer werden, ihren Alltag zu gestalten. Infrastruktur wird abgebaut, Arbeitsplätze gehen verloren und für die Alten und Kranken gibt es keine Versorgungsleistungen mehr.
Der Impuls der Politik wird sein, mehr Menschen schneller (aka „geringer“) zu qualifizieren und somit unmittelbarer in die Versorgung einzubinden. Diese Vorgehen gehört in den Kanon populistischer Lebenslügen, wenn die demografischen Prozesse zunächst davon gekennzeichnet sind, dass einer überwältigenden Anzahl von Alten bald ein erheblich geringerer Anteil von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gegenübersteht. Wo sollen denn Bitteschön die Menschen herkommen, die dann mit geringerer Qualifikation schneller „am Bett“ sind?
Wir müssen akzeptieren, dass wir mit einer geringeren Anzahl von Pflegefachpersonen einen größeren Anteil von Pflegeempfängern versorgen werden. Und das kann nur funktionieren, wenn wir die Aufgaben neu definieren. Wenn wir als Berufsgruppe uns aber jetzt hinstellen und sagen, wir wollen das fürsorgliche Pflegeverständnis anwenden, das die Pflege in Deutschland kennzeichnet – wir also keinen anderen Entwurf haben, als diesen – dann wird der Pflegeberuf weiter marginalisiert werden. Wenn es uns als Berufsgruppe nicht gelingt, die besondere Bedeutung der Vorbehaltsaufgaben in die Praxis zu tragen und dort auch zu verteidigen, wird der Pflegeberuf weiter marginalisiert werden. Wenn wir es als Berufsgruppen nicht schaffen, uns den neuen Versorgungsanforderungen gerade in strukturschwachen Gebieten zu stellen und unseren Platz gegenüber anderen Berufsgruppen engagiert einzufordern, wird der Pflegeberuf weiter marginalisiert werden.
„5 vor 12“ war es schon vor 20 Jahren.